Gehört Verlieren zum Videospielen dazu?

Pro und Kontra

In den meisten Games geht es ums Gewinnen und Verlieren. Aber muss das so sein? Maurice Alain Hagelstein und Christina Kutscher vom Spielekulturmagazin „WASD“ sind unterschiedlicher Meinung.

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Pro

„Wir sind ja nicht bei der ‚Mini Playback Show‘!“

Maurice Alain Hagelstein
ist ein guter Verlierer und mag deswegen Loser wie Waluigi am liebsten. Wenn er gerade nicht verliert, verzweifelt er als Spieleentwickler in Deutschland mit seiner Firma Tiny Roar am Schwierigkeitsgrad des "Spiel des Lebens". Das Einzige, was er mehr liebt als die Taunt-Taste in "Smash Bros.", ist sein kleiner Sohn Pilou, den er noch nie hat gewinnen lassen. 

Ja! Ich finde, Verlieren gehört bei Videospielen so sehr dazu wie das „Wahooo!“ zu „Super Mario“. Und nein, ich leite dieses Plädoyer jetzt nicht mit einem Auszug aus Becks „Loser“ ein. Einen Ohrwurm habt ihr aber spätestens zum Ende des Textes trotzdem im Ohr.

Verlieren fühlt sich scheiße an. Meistens. Besonders dann, wenn man das Gefühl hat, man hatte keine Chance, diese Niederlage abzuwenden; wenn das System betrügt; wenn der Gegner ungleich stärker ist und so weiter.

Aber genau hier liegt dieser Gottpartikel des Gamedesigns vergraben, wie ein Haufen NES-Module in der Wüste Nevadas. Wer die kosmische Formel aus Fairness, Bestrafung und eben auch Glück richtig löst, wird einen Spieleklassiker produzieren können. Doch wie vieles ist diese Formel ständig im Wandel.

„Früher waren Spiele noch etwas für richtige Kerle“, hört man vermeintliche Master-Race-ler in nach Monster-Energy-Drink riechenden Discord-Chats rülpsen, während sich die Spielerlandschaft in Wirklichkeit komplett verändert hat. Nahezu jeder Mensch spielt. Selbst diejenigen, die behaupten, sie würden nicht spielen – sie wissen nur nicht, dass „Solitaire“ das“Hearthstone“ des Beamten ist. Das führt dazu, dass Spieleentwickler heutzutage mit viel mehr unterschiedlichen Akzeptanzen für Frust im Hinterkopf entwickeln müssen als zum Beispiel in den Achtzigerjahren.

Arcades boomten, und die Spieler pilgerten zu den neonleuchtenden Ruhmeshallen, um hart verdiente Münzen in fragile, digitale Leben umzuwandeln, welche in der Regel nicht mehr als vier Minuten Spielzeit garantierten. Ein Fehler, und du warst tot. Keine Gnade. Wie ein glorreiches Kriegsdenkmal gefallener Soldaten flimmerten die Highscores nach dem „Game Over“ über das Display. War man gut genug, durfte man seine Initialen in den Grabstein schnitzen, in der Hoffnung, nicht schon bald in Vergessenheit zu geraten. Nur besser zu werden sicherte einem einen Platz im Gamer-Walhalla.

Firmen wie Nintendo und Atari brachen schließlich mit dieser Ideologie, als sie ihre Spiele ins Wohn- und vor allem ins Kinderzimmer brachten. Vorbei waren die Zeiten der verrauchten Münzschluckfabriken. Mit dem Zuwachs an Konsumenten wuchs auch der Anspruch an die Spiele selbst. Spiele, die zu unfair waren, wurden aussortiert. Lieber ließ man sich von Lehrmeistern wie Mario an die Hand nehmen und lernte mit jeder Stage etwas Neues. Dies führte zu einem völlig neuen Verständnis dafür, wie fair Spiele sein mussten.

Heutzutage pochen Spieler darauf, dass sie ein Anrecht darauf haben, Spiele vollends genießen zu können. Den Pokal in den Händen halten zu können, wenn sie lange genug rumdaddeln, egal, wie geschickt sie sich dabei anstellen. „Sekiro“ ist ein beliebtes Beispiel für das neue Phänomen der „Non-Inclusive-Games“. Gemeint sind damit Spiele, die mit Absicht so schwierig sind, dass nur ein Bruchteil der Spieler auch nur die 50-Prozent-Marke erreichen werden.

Doch wäre „Sekiro“ noch „Sekiro“, wenn es einen Easy Mode hätte? Waren „Dark Souls“ und „Bloodborne“ vielleicht nur die Bootcamps? Ist „Sekiro“ der Mount Everest? Würde ein Easy Mode die Errungenschaft des Erklimmens selbst nicht genauso mindern, als hätte man die Sherpas die ganze Arbeit machen lassen?

Selbst Nintendo, das jedes Spiel nach dem Prinzip „easy to learn, hard to master“ entwickelt, hat das Verlieren zu einem Hit gemacht: „Mario Maker“ erlaubt es Spielern, eigene Levels zu bauen und diese mit der Welt zu teilen. Schaut man sich die Kreationen an, so fällt auf, dass ein Großteil der Levels unglaublich schwierig ist. Schwieriger als so manches letztes Level in einem offiziellem „Mario“-Spiel. Warum lieben die Leute es, solche Level zu bauen, aber auch zu spielen?

Weil wir wissen: Jemand hat es geschafft. Um ein Level hochzuladen, muss man es selbst mindestens einmal überlebt haben. Das fuchst!

„Wie kann es sein, dass andere es geschafft haben und ich nicht?“ „Komm, noch einmal versuch ich’s!“ „Okay, diesmal aber!“

Nur wer das Blut im Mund nach einer heftigen Niederlage geschmeckt hat, weiß, wie süß ein Sieg wirklich schmecken kann. Diese Ruhe nach dem Sturm. Wenn der Blutdruck sinkt, während die Credits über den Bildschirm rollen, spüren wir die Freude darüber, dass wir es durchgezogen haben, und die Trauer, dass es jetzt vorbei ist. Doch schon bald finden wir den nächsten Gegner. Den nächsten weißen Wal. Und wieder werden wir leiden. Und diese Erfahrungen werden uns als Spielkonsument prägen.

Und deswegen sage ich voller Stolz: „Soy un perdedor.“

Kontra

„Es gibt nur schlechte Verlierer“

Christina Kutscher
hat Amerikanistik studiert, wo der Konkurrenzkampf auf dem Papier ausgetragen wird. Sie schreibt und podcastet bei "Lost Levels" und organisiert den Creative Gaming Award für das "PLAY - Creative Gaming Festival", wo alle Gewinner_innen sind und deswegen eigentlich niemand gewinnt. 

Gewinnen zu wollen, schneller, größer, besser sein zu wollen, ist menschlich, das haben uns Millionen Jahre Evolution eingetrichtert. Gewinner zu sein, bedeutet aber auch, dass es Verlierer gibt. Lasst uns dieses Konzept doch noch mal überdenken.

Verlieren führt zu unfairem Verhalten. Das Unvermögen, eine Niederlage zu akzeptieren, führt dazu, dass Spielende gezielt Fehlinformationen verbreiten, elementares Wissen verschweigen oder sich durch den fucking Wald forsten, um deine Verteidigungsanlagen in „Age of Empires 2“ zu umgehen. Klar ist das theoretisch Fairplay. Aber wer (wie ich) permanent verliert, wird irgendwann richtig schlecht darin.

Angefangen hat es damit, dass mein Stiefbruder mir einige Jahre Spielerfahrung voraushatte und ich gerade erst mit meinen noch viel zu kleinen Fingern die ersten Knöpfe auf einem grauen Playstation-Controller drückte. Ich nahm die schönsten Charaktere, weil ich die englischen Beschreibungen nicht lesen konnte.

Keine guten Voraussetzungen für digitale Austragungen von Geschwisterrivalitäten, besonders wenn der Bruder dir nicht erklären will, wie Beat ‚em ups funktionieren und dich entsprechend fertig macht. Es entstand ein ungesunder Konkurrenzdruck, der keinen Spaß machte und Missgunst und Häme förderte, was noch weniger Spaß machte.

Später, ich konnte mittlerweile den Controller sicher in den Händen halten und auch englische Charakterbeschreibungen verstehen, spielte ich mit Freunden. Obwohl ich nicht mehr ganz so oft verlor, blieb es eine unangenehme Erfahrung. Menschlich, wie ich bin, fing ich an zu betrügen. Hier mal auf die andere Hälfte des Splitscreens gucken, dort Mitspielende mit banalen Kommentaren ablenken oder in die Irre führen. Fragen wie „Was bedeutet das Raketensymbol?“ lassen Gegner leichtsinnig werden und machen es umso leichter, besagte Rakete in ihr Gesicht zu schießen. Klar war das nicht fair. Aber Gewinn ist Gewinn.

Zugegeben, das Einzige, was meine Unfähigkeit in Würde zu verlieren noch übersteigt, ist meine Unfähigkeit, in Würde zu gewinnen. Woran liegt’s? Vielleicht an Sprüchen wie „Du bist halt ein Mädchen und kannst es nicht“, deren Urhebern man die Niederlage später noch weiter reindrücken möchte. Klingt wie ein Klischee, ich würde es auch lieber verdrängen. Meine Strategie war leider, unfair zu spielen, und genau das passiert, wenn es Verlierer gibt. Verlieren ist für alle Beteiligten scheiße.

Und dann gibt es Spiele, die zelebrieren diese Scheiße. Mit fürchterlichen Mechanismen, die automatisch eine Niederlage bedeuten, wie der Bogen in „Nidhogg 2“. Wer den hat, kann die Runde direkt aufgeben und das hat nichts mehr mit Herausforderungen und Balancing zu tun, sondern war einfach eine schlechte Idee.

Natürlich mag es eine masochistische Nische geben, die sackschwere Spiele mag. Souls-like ist der moderne Begriff, dabei hat schon „I Wanna Be the Guy“ 2007 gezeigt, wie man Sadismus zur Marktlücke erklärt. Das Unfaire daran ist die Exklusion aller, die nicht genug Zeit, Skill oder beides haben, um diese Spiele in ihrer grausamen Gänze zu erleben.

Will man nun einen Easy Mode einbauen, dann schreien Pseudo-Elitäre, dass hier eine Vision umgesetzt wurde, die es nicht zu zerstören gilt. Schön für die Vision, wenn die meisten Spielenden sie nicht erfahren können. Ist das dann gerecht?!

„Bloodborne“ zeigt mit seinem Koop-Modus, dass es auch anders geht. Gemeinsam durch Yharnam, alles ist Friede, Freude, Eierkuchen (oder eben Shortcuts, Schmutz und Blutechos), niemand verliert. Außer virtuelle Gegner, aber mei – man kann nicht alles haben.

Spiele sollten inklusiv sein und Spielende nicht zu Verlierern machen. Sonst verlieren Spielende Motivation und Zeit und auch das Spiel verliert seinen Reiz und letztendlich die Spielenden, und alle sind Verlierer. Will doch niemand!

Und selbst wenn das Spiel selbst nicht gegen dich ist, ist es dein Bruder, dein Freund, dein eigener Stolz. Deshalb lasst uns Verlieren direkt ganz abschaffen und Spiele ohne Druck, Neid und schlechte Gewinner genießen. Nein zum Verlieren – in welcher Form auch immer. Oder um es in den Worten von DJ Khalid zu sagen:

Quelle: https://www.spiegel.de/netzwelt/games/gaming-emotionen-gehoert-verlieren-zum-spielen-dazu-a-171d2f52-4636-4110-80ba-f45adc6fcf6c

1 Kommentar

  1. Veröffentlicht von Stefan Weinert am 13. Januar 2020 um 17:18

    Natürlich muss es Verlierer geben. Irgendein Grund zum lachen muss ich ja haben, wenn ich die alle in Grund und Boden spiele ?

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